Dieses Jahr im Oktober werden 70 imaginäre Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte brennen. Ein Alter, das man ihr nicht ansieht. Doch ein Blick auf ihre Hände verrät, dass ihr Leben nicht spurlos an ihr vorbeigezogen ist. Ein Leben, hinter dem sich viele Geschichten verbergen:  Armut, Verluste von geliebten Personen, Militärputsch, unverwirklichte Träume,  aber auch positive Erlebnisse, wie die Geburt ihrer drei Söhne, ihr kleines Haus am Strand und der große Familienzusammenhalt, geben ihr in schwierigen Zeiten Halt. "Ich hatte ein schweres Leben, aus dem ich das beste gemacht habe", sagt sie und weiß, dass sie es weit besser gehabt haben könnte.

In diesem Alter denkt die Rentnerin mehr denn je an das Jenseits. Und wenn sie darüber nachdenkt, würde sie am Liebsten in einem Unfall sterben. "Auf einmal bin ich weg, ich will nicht an einer langjährigen Krankheit zugrunde gehen, bei der noch Dritte einen großen Leidensweg haben". Ihre Schwester ist vor langer Zeit an Krebs gestorben, sie hat den Verfall eines geliebten Menschen hautnah mitbekommen. „Einmal und nie wieder“, denkt sie dabei.

Geboren ist die 69-Jährige in Lota, eine Hafenstadt in Chile. Sie ist die älteste von fünf Geschwistern, aber diejenige, die von Technik am meisten versteht. Hier und da zückt sie ihr Handy und schreibt mit anderen Freundinnen, die auch weit über 60 Jahre alt sind, in Whatsapp. "Facebook hab ich selbstverständlich auch", sagt sie und lacht.  Sie muss schließlich wissen, was alle so treiben und als Rentnerin hat man dafür Zeit.
Einst war sie Lehrerin. Aus vollem Herzen. "Mir hat es eine Menge Spaß gemacht, denn ich liebe es mit Kindern zu arbeiten."
Die Chilenin hat ihren Beruf vorzeitig aufgeben müssen.
"Die Schüler spuckten mich an oder wurden gewalttätig, irgendwann konnte ich nicht mehr, die Schüler trieben mich in den Wahnsinn. Ich entschied mich dafür, weniger zu verdienen, aber meine Ruhe zu haben." Die einst begeisterte Lehrerin, unterrichtete auf einer staatlichen Schule, bei der es viele Kinder gab, die aus gewalttätigen Familien kamen."Sie kannten es ja auch nicht anders.“


Einen besseren Ehemann hätte die Chilenin durchaus haben können, aber manchmal läuft es eben anders. "Er trinkt und schlägt mich nicht", das ist für die 69-Jährige wichtig, da viel Gewalt und Alkoholismus in ihrer Familie herrschte. "Das wollte ich nie wieder erleben müssen!"


Insgeheim trauert sie doch ein bisschen. Über Jahre, die vergangen sind und nicht zurückkehren. Über verpasste Chancen, auf ein besseres Leben, anstatt mit 69-Jahren ohne Auto, jeden Tag den überfüllten Bus zu nehmen und eine Stunde in der Pampa der südamerikanischen Provinzen herumzufahren, um einen Arzt aufsuchen zu können. Ein Leben, von dem die Rentnerin sicher nicht geträumt hat.

Zu ihrer Beerdigung sollen nur Diejenigen kommen, die sie geschätzt haben, in schwierigen Momenten zu ihr gestanden haben und sie so kennengelernt haben, wie sie ist. Bestimmte Vorstellungen hat die 69-Jährige durchaus: "Ich liebe Tulpen, in all ihren Farben und Sonnenblumen soll es geben. Und zwar Viele!"


Beerdigungen sind für sie immer ein Grund zu weinen. "Furchtbar, aber ich bin so weinerlich", sagt sie und lacht. Aber es gibt schlimmeres, als im hohen Alter abzudanken.
Traurige Erlebnisse gab es allerhand in ihrem Leben, als in der Diktaturzeit von 1973 Freunde verschwanden, gefoltert wurden und sie viele nie wieder sah, obwohl man sich am Tag zuvor noch auf einen Café in der Stadt getroffen hatte. Auf einmal weg, keine Spur von ihnen und Fragen stellen durfte man auch nicht. "In solchen Momenten stirbt immer ein wenig von einem selbst.“

Doch eine Begebenheit schnürt ihr besonders den Hals zu und lässt ihre Stimme einen anderen Tonfall annehmen: Der Tod ihres ersten Kindes. Eine Todgeburt, die sie bis heute nicht verarbeiten konnte. "Seit dem Tag, kann ich mich auf nichts mehr aus vollem Herzen freuen, ich habe Angst, dass es dann doch anders kommt, wie es so oft der Fall war."

In schweren Situationen kommen ihr die Gedanken, dass sie vielleicht nie sterben wird, dass sie ewig auf der Erde herumspaziert, obwohl sie manchmal einfach die Schnauze gestrichen voll hat. Von ihrem Ehemann, von familiären Problemen, oder dass der Friseur ihr das Haar doch zu kurz geschnitten hat und sie nun aussieht, als wäre sie zwanzig Jahre älter. Sowas eben.


"Silvio Rodriguez. Er soll bei meiner Trauerfeier erklingen", wünscht sich die junggebliebene Ende 60-Jährige.
Der kubanische Liedermacher, der auch in Chile war und dort für viele Menschen das in Poesie verpackt hat, was sie in der Diktaturzeit empfanden, ist für die Chilenin mehr als nur ein Künstler. Sie hat die Musik des Kubaners an guten wie an schlechten Tagen gehört und kein anderer soll den Ton angeben, wenn sie zu Grabe getragen wird. Nur er.